Nordwind

07.07.2018

Nun ist es eine ganze Weile her, seit ich vom Herz inspirierte Gedanken niedergeschrieben habe. Es musste etwas still werden, damit ich die eh schon leise Stimme meines Herzens wieder hören und ihr folgen konnte. Wie so oft im Leben hat diese Rückzugsphase mit Besinnung und Neuausrichtung zu tun. Wie bei den meisten Menschen, die ich begleiten darf, kann das Neue erst beginnen, wenn es zu einer Art Stillstand gekommen ist, es eben still geworden ist und man dem Unüberhörbaren zuhören muss. Dieser Stillstand drückt sich mitunter auch über das Körperbefinden aus, so auch in meinem Fall. Wenn der Lebensfluss ins Stocken gerät, sich das Leben mit all seiner unvorhersehbaren Zufälligkeit und Abenteuerlust keinen Platz mehr schaffen kann, stauen sich alle Wasser. Von hinten drängt weiteres Wasser nach, und langsam tritt immer wie mehr Wasser über die Ufer, unkontrolliert und flutet das Land, die langsame Zerstörung beginnt.

Soweit liess ich es nicht kommen und habe meiner inneren Herzensführung das Ruder übergeben. Wie von einer inneren Macht angestossen, habe ich damit begonnen, mein Leben in eine neue Richtung zu lenken, zu neuen Horizonten und Möglichkeiten.

Es begann mit einer Übung im Tai Chi-Kurs. Wie fast jeden Abend stimmten wir unseren Körper und Geist mit einer besonderen Vorübung auf die meditativen Bewegungen ein. In dieser Übung werden alle vier Himmelsrichtungen begrüsst, die Kräfte und Energien aus allen Richtungen aufgenommen und wieder abgegeben. Interessant war, wie die eine der Richtungen mehr einwirkte als andere, so bei mir der Norden. Jedes Mal, wenn wir uns als Gruppe und doch in uns selbst versunken in Richtung Norden ausrichteten, fühlte ich eine Art Sog und eine Kraft, die ich gleichsam fordernd wie unterstützend wahrnahm. Mit jedem weiteren Mal wurde diese Kraft stärker und fordernder, bis es aus mir herausbrach und ich mit meiner Entscheidung, das Unabänderliche zuzulassen und mich in das Chaos der Veränderung zu begeben, einen Schritt aus dem Stillstand heraus machte.

In nordischen wie südlichen Mythologien wird der Wind des Nordens (Bora oder auch Boreas genannt) als starker Wind beschrieben, der mehr als nur etwas in Bewegung bringt. Mit seiner zuerst als schneidende wahrgenommene Kälte bläst er wie aus dem Nichts über die Meere und tobt manchmal wochenlang. Die sog. Bora blase laut alten Schriften "die schlechten Launen fort" und viele Kranke fühlen sich danach von ihren Leiden und Schmerzen befreit. Der Nordwind trägt jedoch nicht nur diese rein meteorologische Kraft, sondern auch das Vermächtnis der Ahnen in sich. Er erinnert uns daran, unser Leben in Schwung zu halten, uns (wieder) vorwärts zu bewegen und zu dem zu werden, was wir für uns bestimmt haben und was für uns bestimmt ist. So steht in einem Liedtext zum Nordwind geschrieben: "Kalt wie der Wind des Nordens ist das ewige Herz aus Eis, wo selbst die Sonne gefroren, dort einst die Sterne geboren, gefror'ne Seele, ewiges Herz."

Der Nordwind mit seiner Botschaft der Ahnen hat mich an mein eigenes Herz erinnert, geknüpft an jenes ewige Herz, an das Vermächtnis, das in meinem Herzen liegt. Gebunden an jenes, woher ich komme, was mir in die Wiege gelegt worden ist und was meine Aufgabe im Hier und Jetzt ist: das Leben zuzulassen, das "Stirb und Werde" in der eigenen Situation zu erfahren.

Im Herzen tragen wir nicht nur Wünsche und Hoffnungen, sondern vor allem Bedürfnisse. Diese verweisen uns auf das, was wir dürfen und sollen, was uns gut tut, was gut für uns ist. Nicht für andere, sondern für uns selbst.

Ein Bedürfnis lässt sich nicht unterdrücken, und wenn, dann nur für einen bestimmten Zeitraum. Ein Bedürfnis ist etwas Konkretes, etwas Fassbares, das wir klar benennen können, viel mehr als ein Wunsch, der einen Traum, eine Vision grosszügig und fast ausufernd beschreibt. Ein Bedürfnis ist sozusagen wie das Pressecommuniqué unseres Herzens und sagt: Schau, das ist die Situation, die uns in das Heute geführt hat und nun einer Veränderung, einer Neuerung bedarf. Es beschreibt klar, was und wer dazu gehört, und was nicht. Es berichtet über Veränderungsschmerz und das Abschiednehmen von Liebgewonnenem, und stellt gleichzeitig die Wegrichtung und anzusteuernde Meilensteine in Ausblick. Das Formulieren dieses Bedürfnisses macht den Weg frei und öffnet den Blick auf den Horizont.

Was sich konkret verändert und in welchem Ausmass, was die Auswirkungen sind und wie diese auf den oder die betroffenen Menschen einwirken, dies kann durch ein Veränderungsmanagement bewusst gesteuert werden. Ja, Ihr habt richtig gelesen, eine Veränderung im Leben lässt sich ähnlich handhaben wie im beruflichen Kontext (im sog. Change Management). Dies bedeutet, gleichsam den vom Herzen aus gesponnenen Faden aufzunehmen und dort in den sich bildenden Lebensteppich einzuweben, wo der stimmige Platz ist und wo er zu einem lebendigen harmonischen Werk beiträgt.

Nun bin ich gespannt, was noch alles auf diesem Weg passieren wird, und lasse mich vom Nordwind weitertragen und inspirieren. Die Leitung als körperliche und seelische Taktgebung in meinem Leben übergebe ich gerne meinem Herzen.