Der Mensch ist, was er is(s)t

13.09.2017

Wieder mal am Mittagsbuffet in der Stadt stehend, wartend auf den Gemüse-Nachschub. Nebst orangen Rübchenstäbchen, knallgrünen Erbsenkügelchen und écrufarbenen Blumenkohlröschen gibt es noch so viel Farbiges und Gesundes zum Auswählen und Sicheinverleiben mit Genuss. Das mit reichlich Fett umrandete oder durchsetzte Fleisch mit ebenso hohem Anteil an ungesättigten Fettsäuren in den grosszügig auf den über dem Härdöpfelstock landenden Saucen lasse ich für das eine Mal heute aus, denn es gelüstet mich ganz doll nach frischem knackigen Gemüsespass. Am Tisch im Grossstadtrestaurant für jedwelches Personal und Personen nehme ich mir noch ein Glas Wasser im voraus - das soll die Enzyme im Speichel zur Verdauungsvorbereitung animieren, sich besser mit der gleich in meinem Mund ankommenden Nahrung zu verbinden - und beginne mit meinem Alltagsmahl. Neben mir liegt achtlos hingeworfen eine Tageszeitung, mein flinkes Leseauge überfliegt die Schlagzeilen (hach, was für ein Wort, eine Zeile, die einschlägt!), und siehe da, bei einer Zeile bleibt mein das soeben Gelesene verarbeitender Geist hängen: "Disziplin mit Genuss". Wie bitte? Genuss mit Disziplin, wie geht das denn?

Ich schlage den zur eingeschlagenen Zeile dazu gehörenden Artikel weiter hinten auf und vernehme da, dass es tatsächlich um Essen geht. Und was hat das, oder besser gesagt, warum in aller Welt soll das mit bewusster Selbstregulierung zu tun haben?
Ich vernehme, dass es heutzutage hipp sei, Fotos über sein Essen zu posten und über gesunde Ernährung zu sprechen. Wo man bislang seinen modischen Stellenwert am eigenen Musikstil und der Anzahl besuchter Konzerte habe messen können, sei nun das vegane Häppchen oder der Besuch des gerade neu eröffneten, ethisch korrekten In-Lokals in der Stadt getreten. Essen gebe vielen Halt im Leben und sei zum Statussymbol und Identifikationsfaktor geworden. Diese Information muss ich mir erst einmal auf der Zunge vergehen lassen, bis die Worte ihren Weg in meinen Geist gefunden haben. Alleine zur Thematik "Geschichte der menschlichen Identifikation" könnte man eine mehrere hundert Seiten umfassende Abhandlung schreiben. Ich esse nun deutlich langsamer als ich es sonst schon zu tun versuche (langsames und bedachtes Essen trägt zu einer optimalen Verdaung bei), weil ich im Takt meiner Kaubewegung das Interview mit der Trendforscherin des Gottlieb Duttweiler-Instituts nochmals Aussage für Aussage durchgehe.

Essen ist etwas Sinnliches, denn alle körperlichen Sinne sind am Gaumenschmaus beteiligt. Ein nicht nur schmackhaft, sondern auch visuell schön zubereitetes Essen erfreut unsere physischen und psychischen Geschmackssinne. Nehmen wir nicht einfach nur Nahrung auf, sondern essen mit Genuss, geben wir unserem Körper freudige Signale. Stammen ausserdem die Zutaten aus einer umweltschonenden und möglichst naturbelassenen Produktion, sind wir hoch erfreut. Oder haben damit etwas unser schlechtes Gewissen beruhigt, das uns heute früh ökologische Unverträglichkeit signalisierte, als wir schon wieder einen vollen Kehrichtsack mit all den Rückständen der täglichen Verpackungsorgien in den Container vor dem Haus hineingeworfen haben.
Vieles, was wir aufnehmen, verwerten und aus unserem System herauslassen und abgeben, ist Teil eines gewaltigen Öko-Systems und geht mit einer gewissen Abhängigkeit einher. So habe ich am Mittagsbuffet zwar Einfluss auf die Wahl zwischen Slow und Fast food, zwischen der Zugehörigkeit zur Gruppe der Veganer oder Carnivorer, oder ob ich als Fleisch(fr)essende meinen Braten mit oder ohne Sauce verspeise. Worauf ich jedoch geringeren oder gar keinen Einfluss habe, ist die Art und Weise der Herstellung der Zutaten, deren Zubereitung und den Preis von alledem. Doch es scheint mehr als nur vergängliche Mode zu sein, bewusst und gezielt Nahrung und alle damit verbundenen Leistungen einzukaufen und in sein eigenes Körpersystem hereinzulassen.

Alles, was wir in uns hineinlassen, hat seine Wirkung und seine Auswirkungen.

Bei greifbaren, nachvollziehbaren Vorgängen wie Essen, Verdauung und Wirkung auf unser Körpergefühl gelingt es uns, rasch die Nachhaltigkeit von nachhaltig produzierter Nahrung zu erfassen und zu erspüren. Und wie steht es mit mentaler oder emotionaler nachhaltiger Nahrung? Wie oft nehmen wir achtlos Worte und Bilder entgegen oder füttern uns selbst mit Gedanken und Äusserungen, die schwer verdaubar sind? Alles, was wir vernehmen, nehmen wir vielfach nicht bewusst zu uns. Angesichts der Unmengen von Informationsmaterial, das uns tagtäglich serviert wird, tun wir uns schwer mit der Auswahl und dem Einverleiben, denn unser geistiges Verwertungsorgan ist über alle Massen gefordert. Noch herausfordernder wird es am Arbeitsplatz, wo wir nicht nur Fast brain food vertilgen, sondern auch noch zwischen verschiedenen Aussagen unterscheiden müssen. Da soll uns künstliche Intelligenz beim Verdauen helfen, sozusagen ein zweiter, externer Magen für den Menschen.
A propos: Wo bleibt denn da in all der Fülle und Hülle des Nahrungsangebots der Raum zum Wiederkäuen und zur wertvollen Umwandlung des unser System nährenden Futters? Diesen letzten Teil haben uns effektive Wiederkäuer wie Kühe oder Schafe voraus; nebst ihrer angeborenen Fähigkeit, unverdauliche Rohstoffe zu einem wertvollen Prdoukt wie Milch zu verarbeiten, verfügen sie über dazu nötige Zeit, endlos, immer wieder kehrend. Von uns Menschen wird abverlangt, dass wir unser System optimieren, indem wir Körper und Geist trainieren und effizienter (will heissen: wirkungsvoller) gestalten. Bei den Kühen hat der Landwirt ein Auge darauf, dass immer genug gesunde Rohfaser zur Verfügung steht. Und wer achtet bei uns auf gesundes Material und auf die dazu gehörende nötige Verdauungszeit?

"Der Mensch ist, was er isst", lautet eine Binsenwahrheit. Eine Herzensweisheit lautet: Der Mensch ist, was er IST, und genauso wirkt der Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Was wir sind, wie wir sind, was uns wichtig ist, worauf wir achten, wie wir unser Leben selbst gestalten, wie und mit welcher Intention und Motivation wir im Leben stehen, so wirken wir im Leben. So wirkt sich das Leben um uns auf uns aus. Genau in demselben Masse, wie wir es in unser System lassen und es aus uns wieder herausfliessen lassen. Mit hoffentlich viel Genuss!