Auf Ego-Tour

19.11.2017

Auf Ego-Tour

Wie gut das tut! Die Sonne scheint warm auf mein Gesicht, ich geniesse meine kleine mittägliche Ich-Zeit, während ich entlang der Aare unterhalb der Altstadt von Bern entlang spaziere. Ein frischer Wind bläst in meine Haare und wirbelt sie durcheinander, die Haut meiner Wangen wird merklich kühler und ich ziehe den Mantel etwas enger um mich. Und wie ich da so Schritt um Schritt gedankenversunken fast im gleichen Tempo mit dem Wasserfluss gehe, nehme ich eine getigerte Katze unten am Flussbord wahr. Mit hoch erhobenem Schwanz läuft sie ebenso Schritt um Schritt auf der schmalen Kante, die sie gerade noch vom kalten Nass trennt, gemächlich entlang. Ihr Anblick nimmt mich gefangen, denn so nah am Wasser habe ich selten eine Katze gesehen. Eine intuitive Haltung, da sich ihr Fell sehr schnell mit Wasser vollsaugt und es lange dauert, bis es wieder trocknet und sich ihr Körper zu stark auskühlen würde. Nun, die Tigermieze unterhalb von mir schreitet ruhig voran, als ob sie genau wüsste, was sie da tut. Sie reagiert weder auf mein Zurufen noch auf meine Bewegungen und lässt sich nicht von ihrer Gratwanderung abbringen. Ok, denke ich, dann schreite ich mal mit dir mit und warte ab, was folgt. Auf einmal hält sie an, spitzt die Ohren und blickt rechts den Hang hinauf, schreitet daraufhin diagonal mit dem gleichen Schritt-Tempo über die Bordsteinplatten hinauf zu mir auf den Uferweg. Ohne von mir näher Notiz zu nehmen setzt sie ihren Weg nun neben mir auf dem Weg fort, und wir schreiten nebeneinander her, wie eine sich zufällig gefundene kleine Reisegemeinschaft. Und wie wir da so gemeinsam unterwegs sind, jede in ihr kleines Universum versunken und doch des andern gewahr, spüre ich ihre enorme Selbständigkeit, ihr in sich versunkenes Wesen. Das ganz in sein Sein vertieft ist und trotzdem alle Sensoren offen hat für seine Umwelt.

Ein wenig mehr Kommunikation und Aufmerksamkeit hätte ich mir an dieser Stelle von meiner Weggefährtin schon gewünscht, aber ich merke, sie weiss, dass ich da bin, doch sie ist jetzt auf ihrem Teil unseres Weges. Etwas raschelt im Lorbeerbusch rechts erhöht im Garten des an den Uferweg grenzenden Chalets, Mieze hält abrupt an, ihre kleinen Ohren spitzen sich in die Richtung, woher das Geräusch kam und sie steht wie angewurzelt mit allen vier Pfoten. Ihr Schwanz senkt sich nun, ihr Rückgrat biegt sich durch, ihre Pfoten stehen nun alle für einen kurzen Augenblick eng zusammen und dann hebt sie zum eleganten Sprung auf die ober uns gelegene Steinkante ab. Droben angekommen duckt sie sich, blickt wohl dorthin, woher das Gartengeräusch kam und verschwindet auf wohl Nimmerwiedersehen ins Gebüsch. Das war's mit unserer Reisegemeinschaft, ich blicke ihr noch kurz nach und rufe Tschüss und setze dann meinen Weg alleine fort.

Mieze ist auf ihrer Ego-Tour, und das ist gut so. Sie tut, was sie will, was ihr Instinkt ihr rät, ohne nachzudenken oder abzuwägen. Sie folgt ihrer Intuition. Kein Blick zurück und voll und ganz konzentriert auf das, was ihre Aufmerksamkeit erregt, was sie erreichen will.
Man sagt, dass sehr eigenständige, eigenwillige Menschen meistens eher eine Katze als Haustier haben. Da Katzen dieselbe Persönlichkeit haben und nicht auf Herrchen oder Frauchen angewiesen sind. Sie binden sich nicht an eine Person, sondern wählen eine Umgebung aus, die ihnen entspricht und bleiben dieser treu. Sie wählen, wann sie Zuwendung wollen und wann nicht, da kann Mensch noch so auf Kuschelmomente beharren, eine Katze gibt mit herausgefahrenen Krallen sehr schnell zum Ausdruck, ob sie Nähe will oder gerade eben nicht.

Und wie sieht das bei uns Menschen aus? Ein Grossteil unseres Zuwendungsbedürfnisses, nach Aufmerksamkeit und Austausch sei laut Forschung darin begründet, dass wir in unserem ersten Lebensjahr ohne besagte Zuwendung nicht überlebensfähig wären. Wir brauchen die Reaktion unserer nächsten Umwelt wie den Atem zum Leben; Kleinkinder, die ohne besondere Zuwendung aufwachsen, entwickeln mit fast 100prozentiger Sicherheit eine psychische Störung, die sie ihr Leben lang begleiten wird. Die menschliche Zuwendung hat dabei eine wichtige Funktion, nämlich durch das Berühren und Zuwenden sich selbst zu verspüren lernen. Ein Zuviel oder Zuwenig an dieser Nähe fördert Nähe-Distanzprobleme, und das Ego zieht sich immer wie mehr in sich selbst zurück.

In der griechischen Philosophie spielt das Ego (= das ICH) bis in die heutigen Tage eine besondere Rolle. Ego hat erst einmal keinen negativen Touch, es heisst nicht sofort wie hierzulande: Sei nicht so egoistisch! Sondern die Frage nach dem ICH: wer bist DU eigentlich, was macht dich aus, zeige dich, all dies ist viel wichtiger und entscheidender für eine gesunde Entwicklung hin zum Selbst, als das Zurückbinden des Zuviels, das aus einem Ego entsteht. Die Gemeinschaft regelt das Zuviel auf natürliche Art und Weise, denn das Ego spürt, dass noch andere Egos um das eigene Ego herum existieren, ungesunde Ego-Touren werden automatisch unterbunden.

Im Laufe der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen spielt das Zuviel oder Zuwenig an Anerkennung eine entscheidende Rolle für die Haltung zu sich selbst. Daraus erwächst die Selbstachtung, und daraus entsteht die Achtung auf das Selbst, auf die eigenen Bedürfnisse und Motivationen. Diese werden fortwährend mit der Umwelt abgestimmt, sozusagen aufeinander eingeschwungen. Rudolf Steiner hat dies wunderbar dargestellt:
"So steht der Mensch zwischen zwei Welten: derjenigen, die von aussen auf ihn eindringt, und derjenigen, die er aus sich hervorbringt. Diese beiden Welten in Einklang zu bringen, ist der Mensch bemüht. Denn sein ganzes Wesen ist auf Harmonie gerichtet. Er möchte leben wie die Rose, die nicht fragt nach dem Warum und Weil, sondern die blühet, weil sie blühet."

Die Auseinandersetzung zwischen dem Ich und dem Du kann erst beginnen, wenn das Ich als solches beachtet und anerkannt ist. Darin liegt der Grundstein für die fruchtbare Auseinandersetzung zwischen meiner und deiner Welt.

Im menschlichen System ist das Herz ein entscheidender Wegweiser für die Bedürfnisse des Ichs, es unterstützt mein Verständnis für das eigene Wollen und meine Kommunikation mit der Umwelt zum Nachvollziehen des eigenen Handelns. Mit dem Erkennen meines Ichs wird mein Selbst ganz, und meine Umwelt hat so die Chance, mich besser kennenzulernen und mit mir zu interagieren.

Zurück zur Ego-Tour meiner kleinen Reisegefährtin: Ich danke Mieze, dass sie mich wieder einmal an mein Ego erinnert hat; dieses nicht zu vernachlässigen, sondern zu pflegen und zu leben, meiner Intuition zu folgen und mein Selbst zu achten.
Mich möglichst täglich auf eine gesunde Ego-Tour zu begeben.